Russlands Aktien sind sehr günstig
Hallo,
Russlands Wirtschaft ist in guter Verfassung
Vom globalen Abschwung ist bisher kaum etwas zu sehen – Abhängigkeit vom Ölpreis und Kapitalflucht sind grosse Hindernisse für langfristige Prosperität
Peter Rohner
Anleger mögen Stabilität und Berechenbarkeit. Das gilt besonders für die politischen Rahmenbedingungen. Genau daran gab es im Winter nach den umstrittenen Parlamentswahlen in Russland grosse Zweifel. Die Demonstrationen in Moskau und St. Petersburg weckten böse Erinnerungen an den arabischen Frühling vor einem Jahr, als die politischen Risiken unterschätzt worden waren und die Börsen über Monate geschlossen blieben, ausländische Investoren das Kapital abzogen und die Konjunktur einbrach. Ähnliche Befürchtungen gab es für Russland. Es herrschte zwar keine Panik, aber ein gewisses Unbehagen war auch in den Kursen der Finanzwerte ersichtlich. Trotz des Höhenflugs des Ölpreises entwickelten sich russische Aktien im Dezember und Januar unterdurchschnittlich. Der Rubel neigte trotz gesunder Konjunkturaussichten zur Schwäche. Seit Putin Anfang März die Präsidentschaftswahl jedoch deutlich für sich entschieden hat, haben die Proteste nachgelassen und mit ihnen die Angst vor einer Eskalation.
«Das politische Risiko hat sich aber nicht einfach in Luft aufgelöst, denn die Zusammensetzung der nächsten Regierung ist noch nicht bekannt», glaubt Timothy McCarthy, der für die Russlandfonds der Bankengruppe Valartis verantwortlich ist. «Es zeichnet sich ein heftiges Positionsgerangel ab.» Die jüngsten Berichte über das dubiose Vermögen des Vizepremiers Schuwalow liefern einen Vorgeschmack für den harten Kampf um die Regierungsposten. «Es ist gut möglich, dass es einige grosse Überraschungen gibt. Es wird zum Beispiel darüber spekuliert, dass Medwedew durch den ehemaligen Finanzminister Alexei Kudrin ersetzt werden könnte», so McCarthy.
Robuste Konjunktur
Im Schatten der politischen Wirren startete Russlands Wirtschaft auf einem soliden Fundament in dieses Jahr. Vom Abschwung, der sich in den anderen Bric-Staaten abzeichnete, war in Russland wenig spürbar. Dank robustem Kreditwachstum und höherer Einkommen nahm Russlands Bruttoinlandprodukt (BIP) 2011 wie schon im Vorjahr 4,3% zu. Im Dezember fiel die Arbeitslosigkeit auf 6,1% – den tiefsten Stand seit Mitte 2008. Seither ist sie etwas gestiegen. Der Staatshaushalt wies im letzten Jahr einen Überschuss von 0,8% des BIP aus. Der für die Einnahmen entscheidende Ölpreis betrug 2011 im Durchschnitt 109 $ pro Fass.
Der Konsum erhielt auch Unterstützung durch die Verlangsamung der allgemeinen Teuerung. Die Inflationsrate ging im Verlaufe des Jahres auf 6,1% zurück und erreichte damit das untere Ende des von der russischen Zentralbank (CBR) festgelegten Zielbandes von 6 bis 7%. In den letzten Monaten ist die Inflationsrate sogar unter 4% gefallen. Während Russland über Jahre hinweg eine der höchsten Inflationsraten innerhalb der Bric-Staaten ausgewiesen hatte, befindet sich die Teuerung heute auf dem tiefsten Niveau seit Zusammenbruch der Sowjetunion.Viele Ökonomen erwarten jedoch eine leichte Wachstumsverlangsamung in diesem Jahr. S&P erwartet aufgrund einer erneut höheren Inflation in der zweiten Jahreshälfte und der konservativeren Kreditvergabe durch die Banken eine Abkühlung auf 3,5%.
Der Internationale Währungsfonds hat im neuen World Economic Outlook (vgl. S. 25) die Prognose für 2012 von 3,3 auf 4% revidiert. Die neuesten Daten weisen darauf hin, dass die Dynamik bereits ein wenig nachgelassen hat. Im März verlangsamte sich das Wachstum der Industrieproduktion von 5 auf 2% gegenüber dem Vorjahr. Gemäss Société Générale ist ein Teil des Rückgangs jedoch technisch bedingt – die hohen Werte im Januar und Februar waren eine Folge des Kalendereffekts und des kalten Winters, der von den Versorgern eine erhöhte Produktion forderte. Der russische Finanzmarkt profitierte im ersten Quartal vor allem von der Liquiditätsschwemme der Europäischen Zentralbank und vom aufkeimenden Optimismus über die Erholung der globalen Konjunktur. Die Renditeaufschläge russischer Anleihen und die Prämien zur Absicherung gegen Zahlungsausfall bildeten sich massiv zurück, während der Aktienmarkt aus Dollarsicht seit Jahresbeginn 16% avancierte.
Die gute Stimmung zeigt sich auch an den Zuflüssen in Russlandfonds. Gemäss dem US-Fondsdatenprovider EPFR sind in den zehn Wochen vor Ostern netto über zwei Milliarden Dollar allein in russische Aktienfonds geflossen. Der Öl-Betafaktor des russischen Aktienmarkts, der die Reaktion auf eine Veränderung des Brentölpreises misst, hat in den letzten Monaten auf 1,1 zugenommen. Das macht russische Aktien extrem anfällig auf einen Rückgang des Ölpreises. Für die Osteuropastrategen von Morgan Stanley sind dies ausreichend Gründe, das Übergewicht in russischen Aktien etwas abzubauen. Russlandexperte McCarthy ist ebenfalls vorsichtig geworden. «Nach einer solchen Rally sind Gewinnmitnahmen wahrscheinlicher.» Langfristig bleibe er aber für russische Wertpapiere optimistisch. Auch wird er die Neubesetzung des Kabinetts genau im Auge behalten. Egon Vavrek, Osteuropafondsmanager bei LGT Capital Management ist zuversichtlich, dass die neue Regierung reformfreundlich sein wird. Es gebe in diesem Jahr auch andere Katalysatoren für den Aktienmarkt wie etwa der Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) oder die Übernahme der IFRS-Rechnungslegungsstandards.
Zu Recht günstig bewertet
Bewertungstechnisch sind russische Aktien sehr günstig. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis auf Basis der für 2012 geschätzten Gewinne beträgt 5,3. Das Bewertungsniveau der Region Osteuropa und Afrika liegt mit 7,8 deutlich unter dem langfristigen Mittel von 10 (vgl. Grafik). «Einige russische Aktien sind darüber hinaus wegen zweistelliger Dividendenrenditen sehr attraktiv, wie etwa Surgutneftegas oder Bashneft», meint Vavrek.
Sehr skeptisch äussern sich die Analysten von S&P zur Abhängigkeit vom Ölpreis und der Kapitalflucht. Ein Viertel trägt der Rohstoffsektor zum BIP bei. Die Einnahmen aus dem Gas- und Ölgeschäft decken 60% des Staatsbudgets.
Ein Preissturz auf 60 $ pro Fass hätte gemäss den Berechnungen von S&P ein Haushaltsdefizit von 8% des BIP zur Folge. Im letzten Jahr ist Kapital im Umfang von 84 Mrd. aus Russland abgeflossen. Es sei zu beobachten, dass die Exporteinnahmen mangels Investitionsmöglichkeiten nicht im Inland eingesetzt werden. Eine Trendumkehr sieht S&P 2012 nicht.